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40 Jahre Schengen
40 Jahre Schengener Abkommen: Europas stille Revolution und Deutschlands strategische Lebensader

Ortsschild von Schengen in Luxemburg

Ortsschild am Ortseingang von Schengen in Luxemburg 

© picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel

Als 1985 fünf europäische Länder den Vertrag von Schengen unterzeichneten, konnten nur wenige erahnen, welche grundlegenden Veränderungen dieser Vertrag für den Kontinent mit sich bringen würde. Was als bescheidenes Abkommen zur Abschaffung der Grenzkontrollen begann, hat sich zum Rückgrat der europäischen Integration entwickelt und das Leben, Arbeiten und Reisen von 400 Millionen Menschen in 29 Ländern verändert.

Für Deutschland bedeutet Schengen weit mehr als nur administrative Erleichterungen. Es ist zu einem strategischen Vorteil geworden, der tief in das Wirtschaftsmodell, den diplomatischen Einfluss und das soziale Gefüge des Landes eingebettet ist. Angesichts der neuen Herausforderungen, mit denen Europa konfrontiert ist, von Klimamigration bis hin zur russischen Aggression, hat die Bedeutung des Abkommens weiter zugenommen. Die Frage ist nicht mehr, ob Schengen wichtig ist, sondern ob Europa es sich leisten kann, das Abkommen zu schwächen.

Die Schengen-Vision: Von bescheidenen Anfängen zur Transformation des Kontinents

Der Schengener Vertrag entstand aus einer einfachen, aber radikalen Idee: Europäer sollten Grenzen so einfach überqueren können wie Stadtgrenzen. Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg und die Niederlande wagten den ersten Schritt, umgingen die langsamer agierende Europäische Gemeinschaft und schufen etwas Beispielloses: einen Raum, in dem Nationalität weniger wichtig war als Bewegungsfreiheit.

Die Architekten des Vertrags verfolgten vier klare Ziele:

  • Beseitigung der Kontrollen an den Binnengrenzen
  • Harmonisierung der Visumpolitik der Mitgliedstaaten
  • Stärkung der Sicherheit an den Außengrenzen
  • Vertiefung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit.

Dabei handelte es sich nicht nur um technische Anpassungen. Sie stellten eine grundlegende Neugestaltung des europäischen Raums dareinen Raum, in dem die Narben der historischen Spaltung durch praktische Zusammenarbeit heilen konnten.

Heute umfasst der Schengen-Raum 25 EU-Länder sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz und bildet mit 29 teilnehmenden Nationen die weltweit größte Freizügigkeitszone.

Europas Wirtschaftsmotor: So kurbelt Schengen das Wachstum an

Die Zahlen sprechen für sich: Jedes Jahr überqueren mehr als 1,25 Milliarden Menschen die Grenzen innerhalb des Schengen-Raumseine Zahl, die alles von Pendlern bis hin zu Sommertouristen umfasst. Hinter dieser Statistik verbirgt sich ein Wandel der europäischen Wirtschaft: Es gibt Lieferketten, die sich über Kontinente erstrecken, Unternehmen, die Talente von Lissabon bis Lettland rekrutieren, und Handelsströme, die Europa zum größten Binnenmarkt der Welt gemacht haben.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen gehen dabei weit über den Tourismus hinaus. Schengen hat den grenzüberschreitenden Pendlerverkehr in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ermöglicht: Über zwei Millionen Europäer arbeiten heute in einem anderen Land als dem, in dem sie lebeneine Zahl, die seit 2017 von 1,4 Millionen stetig gestiegen ist. Diese Flexibilität hat Wohlstandszonen geschaffen, die unter dem alten System der Grenzkontrollen unmöglich gewesen wären.

Über die Bilanz hinaus

Die sozialen und kulturellen Vorteile des Vertrags sind zwar schwerer zu quantifizieren, aber ebenso tiefgreifend. Erasmus-Studierende in Prag, grenzüberschreitend zusammenarbeitende Forscher und Familien, die durch historische Grenzen getrennt waren, aber durch Schengen wieder vereint wurden, haben das Gefüge der europäischen Gesellschaft neu geknüpft.

Der Vertrag hat auch etwas gebracht, das vielleicht noch wertvoller ist als Wirtschaftswachstum: ein Gefühl der gemeinsamen Identität. Für jüngere Europäer ist die Möglichkeit, sich frei auf dem Kontinent zu bewegen, kein Privileg, sondern ein Recht, das sie nie anders erlebt haben.

Die Schengen-Dividende Deutschlands: Warum für Deutschland am meisten auf dem Spiel steht

Aufgrund seiner Lage im Herzen Europas ist Deutschland sowohl der größte Nutznießer als auch der am stärksten gefährdete Verteidiger des Schengen-Raums. Als größte Volkswirtschaft der EU und weltweit führender Exporteur hat Deutschland seinen Wohlstand auf der Annahme aufgebaut, dass die Grenzen offenbleiben.

Betrachten wir beispielsweise den Automobilsektor: Deutsche Autohersteller sind auf Teile angewiesen, die vor der Endmontage mehrere Grenzen überqueren. So kann eine Bremsscheibe in der Tschechischen Republik hergestellt, mit Komponenten aus Polen zusammengebaut und in ein für Frankreich bestimmtes Fahrzeug eingebaut werdenund das alles ohne eine einzige Zollkontrolle. Dieser nahtlose Warenfluss hat Deutschlands Exportmaschine erst möglich gemacht.

Die menschliche Dimension ist ebenso entscheidend. Die alternde Bevölkerung Deutschlands hat zu einem Arbeitskräftemangel geführt, den die EU-Migration ausgleicht. Rumänische Ärzte in deutschen Krankenhäusern, polnische Bauarbeiter und baltische IT-Spezialisten: Sie alle bewegen sich dank Schengen frei und füllen Lücken in der deutschen Erwerbsbevölkerung, die durch inländische Arbeitskräfte nicht geschlossen werden können.

Die diplomatische Dimension

Deutschlands Engagement für Schengen geht über wirtschaftliche Aspekte hinaus. Als eines der Gründungsmitglieder des Vertrags ist Deutschland zu dessen de facto Hüter geworden, der Streitigkeiten schlichtet und das System gegen nationalistische Bestrebungen verteidigt.

Diese Rolle ist schwieriger geworden, da populistische Bewegungen in ganz Europa die Angst vor Migration ausnutzen, um Grenzschließungen zu fordern. Deutschland befindet sich somit in einem Spannungsfeld zwischen der Aufrechterhaltung der europäischen Solidarität und der Reaktion auf innenpolitische Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Einwanderung. Die harsche Reaktion der polnischen Regierung auf die verschärften Grenzkontrollen der Bundesregierung an der deutsch-polnischen Grenzen verdeutlichen dieses Dilemma.

Eine veränderte Gesellschaft

Die deutsche Gesellschaft hat sich in einer Weise an Schengen angepasst, die nur schwer rückgängig zu machen wäre. Geschäftsmodelle setzen nahtloses Reisen voraus, Familien leben in mehreren Ländern und kultureller Austausch ist zur Routine geworden. Die vorübergehenden Grenzschließungen während der Corona-Pandemie gaben einen Vorgeschmack auf ein Leben ohne Schengen – und die Einschränkungen waren erheblich.

Herausforderungen, die die Grenzen des Schengen-Raums auf die Probe stellen

Die Flüchtlingskrise von 2015 hat eine unangenehme Wahrheit offenbart. Die interne Freiheit des Schengen-Raums hängt vollständig von der externen Kontrolle ab. Als Hunderttausende Menschen ohne ordnungsgemäße Verfahren nach Europa einreisten und die EU-Länder es versäumten, ihre Reaktion zu koordinieren, brach das gesamte System zusammen. Deutschland und mehrere andere Nationen hatten keine andere Wahl, als vorübergehend wieder Grenzkontrollen einzuführen.

Dabei wurde nicht nur deutlich, dass Europa ein besseres Grenzmanagement benötigt, sondern auch, dass der Kontinent das Thema Migration bisher falsch angegangen ist. Statt jeden Neuankömmling entweder als humanitäre Krise oder als Sicherheitsbedrohung zu betrachten, braucht Europa Systeme, die zwischen den verschiedenen Arten von Migration unterscheiden können und angemessen auf jede davon reagieren.

Betrachten wir die qualifizierte Migration: Der deutsche Technologiesektor schreit nach Programmierern, seine Krankenhäuser brauchen Ärzte und seine alternde Bevölkerung benötigt Pflegekräfte. Unterdessen ist es für einen syrischen Ingenieur leichter Asyl zu beantragen als eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Das ist wirtschaftlich unsinnig und setzt die für echte Flüchtlinge konzipierten Asylsysteme unter unmöglichen Druck.

Die Lösung besteht jedoch weder darin, humanitäre Verpflichtungen aufzugeben, noch darin, alle Grenzen zu öffnen. Es geht darum funktionierende Institutionen aufzubauen: schnelle, faire Asylverfahren für diejenigen, die Schutz benötigen, vereinfachte Arbeitsvisa für diejenigen die Europa braucht, und effiziente Rückführungssysteme für diejenigen, die keine Rechtsgrundlage für einen Aufenthalt haben. Vor allem bedeutet dies, dass die Kosten und Vorteile der Migration gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden.

Die technologische Frage

In ganz Europa haben populistische Parteien für sich entdeckt, dass das Versprechenunsere Grenzen zu kontrollieren” Wählerstimmen bringtauch wenn sie nicht erklären können, wie das in der Praxis funktionieren soll. Die Realität ist komplexer: Bei der modernen Grenzsicherheit geht es nicht darum Mauern zu bauen oder mehr Wachpersonal einzustellen, sondern Informationen besser zu nutzen.

Betrachten wir einmal was bereits funktioniert: Wenn Sie von Berlin nach New York fliegen, wissen die Behörden bereits vor dem Einsteigen wer Sie sind. Ihr Name wird mit Sicherheitsdatenbanken abgeglichen, Ihr Reisepass wird gescannt und potenzielle Risiken werden automatisch gemeldet. Diese Passagierkontrolle, die die Sicherheit im Luftverkehr gewährleistet, könnte auch an Landgrenzen angewendet werden, sodass sich legitime Reisende frei bewegen können, während diejenigen, die ein echtes Risiko darstellen, aufgehalten werden.

Das bevorstehende Europäische Reiseinformations- und Genehmigungssystem (ETIAS) ist ein gutes Beispiel für einen solchen intelligenten Ansatz. Es nutzt Daten, um die Sicherheit zu verbessern und dabei zu helfen, endlose Warteschlangen zu vermeiden, die für das alte Grenzsystem typisch waren. Europa braucht jedoch mehr solcher Innovationen: einen besseren Informationsaustausch zwischen den nationalen Behörden, eine schnellere Bearbeitung von Asylanträgen sowie digitale Systeme, die der Komplexität der modernen Migration gerecht werden.

Die von Populisten bevorzugte Alternative der permanenten Grenzkontrollen wäre sowohl wirtschaftlich verheerend als auch praktisch undurchführbar. Jeder, der schon einmal in einem Stau an einem vorübergehend wieder eingeführten Grenzkontrollpunkt gestanden hat, weiß, dass das alte System aus gutem Grund nicht funktioniert hat.

Für die Zukunft bauen

Um das Schengen-Abkommen lebendig und wirksam zu erhalten, sind Investitionen in drei Bereichen erforderlich, in denen Deutschland eine Führungsrolle übernehmen kann und sollte.

Erstens ist eine funktionierende Infrastruktur an den Außengrenzen notwendig. Das bedeutet mehr als nur Zäune und Patrouillenboote, auch wenn diese ihren Platz haben. Es bedeutet auch moderne Bearbeitungszentren, die Asylanträge innerhalb von Wochen statt Jahren bearbeiten können, sowie Technologien die Identitäten schnell und genau überprüfen können. Darüber hinaus sind Koordinierungssysteme erforderlich, die verhindern, dass Menschen das System ausnutzen, indem sie mehrere Anträge in verschiedenen Ländern stellen.

Zweitens sind legale Migrationswege erforderlich, die wirtschaftlich sinnvoll sind. Deutschland profitiert bereits enorm von der Migration innerhalb der EU. Der Kontinent braucht jedoch bessere Systeme, um globale Talente anzuziehen und gleichzeitig den Zustrom von Menschen, die auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten sind, zu steuern. Dabei geht es nicht darum, zwischen Humanität und Wirtschaft zu wählen, sondern darum, unterschiedliche Verfahren für unterschiedliche Situationen zu haben.

Drittens geht es um eine gerechtere Verteilung von Kosten und Nutzen unter den EU-Mitgliedstaaten. Länder an der Peripherie Europas sollten nicht unverhältnismäßig viel Verantwortung für die Verwaltung der Ankömmlinge tragen; gleichzeitig sollten diejenigen im Zentrum die wirtschaftlichen Vorteile einer erfolgreichen Integration nicht monopolisieren. Dies bedeutet wahrscheinlich Finanztransfers, könnte aber auch kreativere Vereinbarungen umfassen, wie beispielsweise die Möglichkeit für Länder, sich auf verschiedene Aspekte der Migrationsverwaltung zu spezialisieren und die Ergebnisse zu teilen.

Ausblick: Schengen in Zeiten der Unsicherheit

Die kommenden Jahrzehnte werden das Schengen-Abkommen auf eine Weise auf die Probe stellen, die sich seine Gründer nie hätten vorstellen können. Der Klimawandel wird neue Migrationsmuster hervorbringen, die möglicherweise größer sein werden als alles was Europa bisher erlebt hat. Geopolitische Spannungen mit Russland haben das System bereits belastet, da Sicherheitsbedenken mit den Grundsätzen der Freizügigkeit in Konflikt stehen.

Doch gerade diese Herausforderungen unterstreichen die anhaltende Relevanz von Schengen. In einer Welt zunehmender Fragmentierung wird die Fähigkeit Europas als einheitlicher Raum zu agieren nicht weniger, sondern mehr an Wert gewinnen. Eine Rückkehr zu nationalen Grenzen und konkurrierenden Politiken wäre eine Schwächung der Position Europas auf der Weltbühne und würde den individuellen Wohlstand seiner Mitglieder mindern.

Die deutsche Notwendigkeit

Für Deutschland geht es bei der Verteidigung von Schengen um mehr als nur europäischen Idealismus: Es geht um den Schutz der Grundlagen des deutschen Wohlstands. Die Exportwirtschaft des Landes, seine Rolle als Drehscheibe für internationale Geschäfte sowie seine Soft Power als europäischer Gestalter basieren auf dem freien Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen.

Die Stabilität und Funktionsfähigkeit Schengens ist somit keine abstrakte Frage, sondern ein konkretes nationales Interesse. Es reicht jedoch nicht, sich rhetorisch zum Projekt Europa zu bekennen. Notwendig ist es, in funktionierende Institutionen zu investieren, Reformen zu unterstützen, die berechtigte Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Fairness ausräumen, und deutlich zu machen, dass die europäische Integration den deutschen Interessen dientgerade weil sie den europäischen Interessen dient.

Am schwierigsten ist es vielleicht, der Versuchung zu widerstehen, einfache Lösungen für komplexe Probleme anzubieten. Grenzkontrollen mögen entschlossen klingen, aber sie lösen nichts, wenn die zugrundeliegenden Systeme weiterhin defekt sind. Europäische Zusammenarbeit mag idealistisch klingen, ist aber tatsächlich der praktischste Ansatz für Herausforderungen, die kein Land alleine bewältigen kann.

Schengen als Versprechen Europas

Der Schengener Vertrag ist mehr als nur ein politischer Erfolg, denn er verkörpert das Versprechen Europas an seine Bürger. Das Versprechen, dass historische Spaltungen nicht die Zukunft bestimmen müssen, dass Zusammenarbeit Konflikte überwinden kann und dass die Europäer gemeinsam etwas aufbauen können, das keiner von ihnen allein erreichen könnte.

Für Deutschland hat dieses Versprechen außerordentliche Vorteile gebracht. Doch Versprechen müssen immer wieder erneuert werden. Die Zukunft von Schengen hängt davon ab, ob die europäischen Staats- und Regierungschefs das System an neue Herausforderungen anpassen können, ohne seinen wesentlichen Charakter zu verändern.

Die Herausforderungen könnten nicht größer sein. In einer zunehmend fragmentierten Welt ist Schengen der Beweis dafür, dass Integration möglich ist und Grenzen Brücken statt Barrieren sein können. Sein Verlust würde nicht nur den Wohlstand Deutschlands mindern, sondern auch die Stellung Europas in der Welt schwächen.

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